Claudius Gros - Mageia, das Buch der Farben. Der Fantasy Roman der Gefühle.


Die Axt


(...) , als es schließlich soweit war und das Buch auf den Tisch gelegt werden konnte. Es war beeindruckend dick, der Umschlag tiefblau und mit golddunklen Schriftzeichen verziert.


Die Legende von den lebenden Steinen


Seine Mutter setzte sich zu ihnen.

»Das klingt spannend. Mal sehen, was wir heute Abend erleben werden.«

Mit einem Lächeln für ihren Sohn strich sie vorsichtig die erste Seite glatt.


Es lebte einst ein mächtiger Magier der Kristalle, Draiochta, welcher sich, der Kriege müde, nach Ruhe und Frieden für die Seinen sehnte. Mit fünf großen Schiffen und allen Einwohnern aus seinem Dorf segelte er durch die Stürme in ein fernes Land. Dort gründete er eine Stadt, Ayu Aegara, die schönste aller Städte. Der Boden war fruchtbar und die See voller Fische, die Wälder voller Wild und die Berge voller Kristalle. Es war alles gut und sein Volk glücklich, den Schrecken der Kriege entflohen zu sein.


Für Draiochta war die Zeit gekommen, sich eine Frau zu nehmen. Seine Erstgeborene war ein fröhliches Töchterchen, das er über alles liebte und der er zum vierten Geburtstag eine ganz besondere Puppe schenkte. Ein kleines Männchen aus Stein, dem er, so groß waren die Künste des Meisters, Leben eingehaucht hatte. Außer sich vor Freude, dachte sich sein Töchterchen sogleich einen Namen für ihren neuen Spielkameraden aus und nannte ihn Babog. Draiochta freute sich mit ihr, hauchte einem weiteren Stein Leben ein und formte ein Hündchen aus festem Fels, das sich lebendig bewegen und mit dem Schwanz wackeln konnte. Jetzt hatte auch sein kleiner Sohn jemanden, mit dem er um die Wette krabbeln konnte.


Der Meister fand gleichfalls Gefallen an den lebenden Steinen. Er erbaute als Nächstes einen Knecht, der Wasser für seine Frau tragen konnte, Holz spalten und Vieles mehr. Mit den Kristallen aus dem Land der Winde formte Draiochta danach Bauern aus Stein, die die Felder auch ohne Geräte bearbeiten konnte. Das ging, da er eines ihrer drei Beine als Pflug gestaltet hatte. Die nächsten lebenden Steine konnten selbst die höchsten Bäume mit der steinernen Axt fällen, die am Ende eines zusätzlichen Arms saß. Von denen hatten sie drei.


So wie Ayu Aegara wuchs und gedieh, benötigte die Stadt eine Mauer. Also erschuf der Kristallmagier Kolosse aus Stein, die so groß waren, dass sie mächtige Quader aus den Bergen herbeischleppen konnten. Dafür gab der Meister ihnen vier Arme. Die ersten beiden Arme hatten Hände, während der dritte Arm als Hammer endete und der vierte als Meißel. So konnten sie die Felsquader selbst bearbeiten.


Es war eine Zeit voller Wohlstand. Der Kristallmeister und die Seinen lebten ohne Sorgen, während die Dächer der Stadt im Glanz der Kristalle erstrahlten. Aber auch an einem großen Meister gehen die Jahre nicht ohne Spuren vorüber und es kam, dass Draiochta die Augen für immer schloss. Er starb zufrieden mit sich und seinem Werk, umgeben von den Seinen und den Babogs, wie man die lebenden Steine mittlerweile nannte. Die Babogs selbst gestalteten die Krypta und den Sarkophag, in dem er auch heute noch ruhen soll.


Es fand sich aber kein Nachfolger für Draiochta. Wie auch, wenn nur der Tod die Pforte zur Magie öffnete und dieser sich nur selten im schönen Land zeigte? So geschah es, dass die lebenden Steine nach der ersten Stadtmauer einfach weiter bauten und eine zweite Mauer um die Stadt zogen. Sie hatten ja keinen Aufseher mehr. Es gab auch niemanden, der sie dazu bringen konnte, auch nur einen Durchlass in den äußeren Ring einzulassen. Die Bewohner von Ayu Aegara legten daraufhin Rampen an, damit sie über die torlose zweite Mauer hinweg noch in die eigene Stadt gelangen konnten.


Mit der Zeit verstarb jedoch die Magie der Kristalle, diesseits der Winde wie im schönen Land. Die lebenden Steine erkrankten, nach und nach, bis ihnen schließlich jede Bewegung unerträglich schmerzhaft wurde. Das machte die Babogs derart wahnsinnig, dass sie anfingen, wild um sich zu schlagen und alles zu zerstören. Alles, was das Unglück hatte, von ihren Armen aus Stein getroffen und zerschmettert zu werden.


In ihrer Not sperrten die Bewohner der Stadt Draiochtas die lebenden Spielzeuge ein und zerstörten danach auch die Bauern unter den lebenden Steinen. Gegen die Steinmetze waren sie jedoch machtlos. Wer hätte diesen gewaltigen Steinen auch Einhalt gebieten können? Die lebenden Kolosse wurden immer wilder, bis sie sogar die Häuser der Stadt mit ihrer Hammerhand zertrümmerten, das Vieh zerstampften und die Bewohner von Ayu Aegara mit ihrer Meißelhand durchbohrten. Es half auch nicht, in die Wälder zu fliehen, da dort die steinernen Holzfäller wüteten.


Nach vielen Jahren legte sich endlich die Zerstörungswut der lebenden Steine und sie erstarrten gleich der Magie der Kristalle. Zu diesem Zeitpunkt lebten aber schon lange keine Menschen mehr im schönen Land. Verhungert waren sie, zertrampelt und durchstochen. Lediglich die blanken Knochen sind von dem einst so stolzen Volk geblieben.


Einzig einem Fischer gelang es zu entkommen. Vom Meer aus hatte er die Schreie der Frauen gehört und gesehen, wie die Giganten durch die Straßen tobten. Aus Angst setzte der gute Mann Kurs auf die Stürme. Sein Boot wurde an die Felsen geworfen und zerschmettert, er selbst konnte sich jedoch retten, sich mit letzter Kraft an Land ziehen und durch die Winde hindurch nach Mageia zurückwandern. Dies ist seine Geschichte. So wie er sie erzählt hat, so habe ich sie euch weitergegeben.


Noch sprach niemand. Seine Mutter war eine gute Vorleserin und sie gönnten sich die Zeit, Eltern wie Sohn, ihren Gedanken in Ruhe nachzuhängen. Die Stille wurde nur (...)